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Golan Levin and Collaborators

Essays and Statements

Einige Gedanken zu John Maeda

This text introduces the documentation of John Maeda's Nature series of digital artworks in the Catalogue of the 2006 Ars Electronica Festival, Simplicity: The Art of Complexity.
Golan Levin, 10 Juli 2006.


Bevor ich vor rund neun Jahren mein Studium bei John Maeda am MIT aufnahm, drängte ich einen gemeinsamen Bekannten, mir mehr über den Mann zu erzählen, der meine Abschlussarbeit betreuen und mein Mentor werden sollte. Ich erhielt die kryptische Antwort, Maeda sei ein Hybrid aus dem letzten lebenden Samurai und dem letzten lebenden Vertreter der Bauhaus-Bewegung. Gewiss erschien es angesichts der behutsamen Aufmerksamkeit, mit der Maeda den formalen Eigenschaften von Designmaterialien (in diesem Fall Software) begegnete, seiner prinzipientreuen, doch intuitiven Berücksichtigung von Ästhetik und Nützlichkeit sowie seines profunden Engagements für Bildung plausibel genug, dass seine Denkweise von der Bauhaus-Tradition beeinflusst wäre. Um den Zusammenhang zwischen seiner Arbeit und der Ethik der Samurai – so vorhanden – zu erkennen, brauchte ich viel länger. Es schien mir abwegig, dass zwischen der stillen künstlerischen Praxis meines charmanten, friedfertigen Betreuers und der unbarmherzigen Kriegerphilosophie ein Konnex bestand. Dieser offenbarte sich mir erst viel später, nachdem ich das Hagakure gelesen hatte, den Verhaltenskodex der Samurai aus der Edo-Ära, der die Kombination von Ehre, Mut, Loyalität und moralischem Charakter als unabdingbare Voraussetzung für eine perfekte künstlerische Praxis ansieht. Obwohl das Hagakure vor dreihundert Jahren verfasst wurde und Maeda selbst es gar nicht gelesen hat, fand sich darin mit geradezu unheimlicher Genauigkeit der präzise Charakter jener Disziplin beschrieben, die Maeda mich lehrte.

Wie beantwortet man die Frage „Wie viel Zweck und Disziplin braucht der Mensch?“ Sagen wir zuerst: „Sein Geist soll einen Zustand erreichen, der rein und frei von Komplikationen ist.“ Hat er diesen Zustand erreicht, so wird sein Ausdruck lebhaft sein. In seinem Umgang mit den Dingen wird dann alles von Herzen kommen. Gegenüber seinem Meister wird er Loyalität zeigen, gegenüber den Eltern Sohnespflicht, in kriegerischen Angelegenheiten Mut, und ganz allgemein wird er in seinem Tun der ganzen Welt Nutzen bringen.[2]

Das Hagakure beschreibt die Verflechtungen zwischen Einfachheit und Disziplin, die Maeda meiner Ansicht nach mit beispielhafter Intuition begriffen hat. Maeda widmet sich seit 2004 dem ehrgeizigen Projekt, die Gesetze der Einfachheit zu entschlüsseln. Überrascht es uns, dass etwas so Flüchtiges wie Einfachheit gesetzesähnlichen Prinzipien unterliegt bzw. dass diese Prinzipien jahrelang unentdeckt bleiben konnten? In der Natur – deren Beobachtung sich Maeda in letzter Zeit mit großer Aufmerksamkeit widmet – manifestieren sich Einfachheit und Disziplin in einem der Grundgesetze der Energieminimierung, dem zufolge mit dem geringsten Materialaufwand und Einsatz maximale Effizienz zu erzielen ist[3].  In Anlehnung daran, dass die Strukturiertheit der Natur als Designstrategie gesehen werden kann[4], stellt Maeda analoge Prinzipien zur Schaffung von Artefakten und zur Gestaltung von Erfahrungen auf – etwa in seinem 11. Gesetz der Einfachheit, das vorschreibt, man möge das Offensichtliche subtrahieren und zugleich das Sinnvolle addieren[5]. Sollte man die Gesetze der Einfachheit tatsächlich intuitiv erfasst werden können, so wird ihre korrekte Anwendung gewiss große Disziplin erfordern.

Abgesehen von der Abhandlung über Disziplin und Einfachheit befasst sich das Hagakure eingehend mit den logischen und angemessenen Umständen für rituellen Selbstmord. Nach dem Ehrenkodex der Samurai ist dieser Weg einem unehrenhaften Tod durch Feindeshand vorzuziehen. So extrem dies auch klingen mag, gilt dieser Ansatz auch für Maeda, zu dessen erklärten Feinden Stagnation und Selbstgefälligkeit zählen. Um der Schmach, sich selbst zu wiederholen, zu entgehen, hat Maeda sich allein in der Zeit unserer Bekanntschaft zweimal absichtlich „umgebracht“, um es mit seinen eigenen Worten auszudrücken. Das erste Mal geschah dies durch die Veröffentlichung seines umfassenden Karriererückblicks Maeda@Media, den er im Alter von 35 Jahren „mit der Absicht, die Denkweise abzuschließen, der ich einst anhing“ verfasste. Das zweite Mal durch die Auflösung der Aesthetics and Computation Group, seines bereits acht Jahre erfolgreich bestehenden und nach wie vor florierenden Forschungsteams. Beide Fälle erforderten die an Madonna gemahnende Gabe, sich beruflich neu zu erfinden. In seinen jüngsten Reinkarnationen konzentriert sich Maeda auf neue ästhetische und pädagogische Fragen und geht diesen im Rahmen von Projekten wie dem Simplicity-Industriekonsortium, dem Studium der Betriebswirtschaft und seiner neuen Forschungsgruppe Physical Language Workshop am MIT nach.

Angesichts seiner Entschlossenheit, sich fortwährend selbst neu zu erfinden, mag man den Eindruck gewinnen, seine neue Serie digitaler Arbeiten, die dieses Jahr unter dem Titel Nature beim Ars Electronica Festival gezeigt wird, sei eine unerwartete Rückkehr zu seinem früheren Interesse an der dynamischen, rechnerischen Form, das zu Beginn der Neunzigerjahren den Ausgangspunkt seiner Arbeiten bildete. Meiner Ansicht nach nimmt Maeda in einem seiner jüngsten Blogeinträge dazu Stellung. Der Eintrag gibt seine Beobachtung des großen Designers Wolfgang Weingart, eines seiner Mentoren, wieder:

Ich besuchte Weingart in Maine, um in seinem damals regelmäßigen stattfindenden Sommerkurs eine Vorlesung zu halten. Ich wunderte mich, dass Weingart es schaffte, jedes Jahr genau dieselbe Eröffnungsvorlesung zu halten. Ich fragte mich: „Wird ihm das nicht langweilig?“ Immer wieder dasselbe zu sagen, hat meiner Meinung nach keinen Wert. Doch erst bei meinem dritten Besuch erkannte ich, dass Weingart zwar immer genau dasselbe sagte, jedoch von Mal zu Mal mit einfacheren Worten[6].

Maedas aktuelle Motion Paintings (eine Bezeichnung, die er zu Recht von Oskar Fischinger entlehnt hat) holen sich ihre Inspiration vom ältesten und großartigsten Meister des Künstlers: der Natur. Die Arbeiten greifen Themen auf, mit denen Maeda sich bereits früher befasst hat – allerdings sind sie (wie Weingarts Vorlesung) viel einfacher geworden. Ähnlich den Arbeiten der Abstrakten Expressionisten „machen diese Werke das Fließen und die Unbestimmtheit der Identität als Qualitäten fest, die in der Welt zu finden sind“ und verleihen – in den Worten von Thomas McEvilley[7] – der zur Modellierung des Realen erforderlichen Energie Gestalt. Maedas Magie gibt einen Blick auf eine Realität frei, in der die grundsätzlich spröde, unpersönliche Berechnungslogik nicht nur auf natürliche, sondern auf unausweichliche Weise so gebeugt zu werden scheint, dass sie Platz für den Hauch einer höchst idiosynkratischen Intuition bietet. Und bei all dem weisen seine Arbeiten Wesenszüge auf, die über jegliche individuelle Philosophie – Bauhaus, Samurai, etc. – hinausgehen: Demut, Offenheit, Anmut und Sinn für Humor.

Aus dem Englischen von Susanne Steinacher.


References